Erleuchtung in 35 Jahren

Mrz 06, 18 Erleuchtung in 35 Jahren

 

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SPIRITUALITÄT IN DAMANHUR

Ich bin mit dem Buch „Siddhartha“ von H. Hesse aufgewachsen. Ich kann mich erinnern, dass ich jedes Wort dieses Buches in mich aufsog, als wäre es Wasser in der Wüste. Ich habe geweint, gelacht und habe verstanden, dass ich niemals mehr ein normales Leben würde führen können. Ich hatte mich entschieden, einen Sinn für diese Existenz zu finden. Nachdem ich auch die Bücher von Carlos Castaneda gelesen hatte, war ich entschlossen, auf der Suche nach einem Nagual[1] nach Mexico zu gehen, um die Mysterien des Lebens zu entdecken. Ein verrückter Plan, von dem ich – damals noch – vollständig überzeugt war.

Zwei Wochen, bevor ich ein Einweg-Ticket nach Oaxaca kaufen wollte, sah ich, unter Umständen, die ich wohl nicht anders als synchronisch bezeichnen kann, eine Sendung über Damanhur. Die Aussage der Übertragung war mehr oder weniger: Diese Menschen, die Damanhurianer, sind alle komplett verrückt und sehr, sehr optimistisch, da sie die Absicht haben, sich zu erleuchten, indem sie eine neue Welt schaffen, die ihren Träumen entspricht. Ich habe in dieser Sendung nur das Lächeln und die leuchtenden Augen aller Befragten gesehen. Die Idee, eine solche Wirklichkeit zu erschaffen, machte für mich so viel Sinn, dass ich mich sofort entschied, diesen Menschen zu begegnen, noch bevor ich nach Mexico reisen würde. So machte ich es dann auch, und sechs Monate später wohnte ich nicht in Oaxaca, sondern in Damanhur.

Vom Reden zum Tun

Das damanhurianische Leben war wesentlich bewegter und entschieden weniger kontemplativ als das von Siddhartha, auch wenn es das gleiche Ziel anstrebte: die Erleuchtung. Ich habe mich oft gefragt, wann dieser Moment denn kommen würde. Ich stellte mir vor, dass dann nichts mehr so wie vorher wäre und dass ich zumindest zwischen mehreren Dimensionen leben würde. Falco, unser spiritueller Leiter, sagte uns immer wieder, dass ein Mensch vor der Erleuchtung die Erde bearbeitet, und der gleiche Mensch nach der Erleuchtung die Erde bearbeitet. Ich verstand die Metapher, aber ich konnte es nicht glauben… wirklich? Ach komm, wenn jemand die Erleuchtung erreicht, ist es doch nicht möglich, dass sich in seinem Leben nichts verändert! Dieses Licht katapultiert bestimmt jedweden aus dieser Realität, die im Vergleich dazu so trüb ist!

Das Leben in der Gemeinschaft verlagerte meine Aufmerksamkeit jedoch auf andere drängendere Probleme, wie zum Beispiel die Schaffung von Kunstwerken in den Tempeln der Menschheit, ohne jemals zuvor einen Pinsel berührt zu haben; Lieder in einem einzigartigen Stil zu komponieren, die unser spirituelles Volk prägen, ohne jemals Musik studiert zu haben; unser Zusammenleben zu verbessern und vor allem, zu verstehen, wie ich mich selbst verbessern kann … Ziele, die eine Menge Energie erfordern.

Ein Perspektivenwechsel

In der konstanten Reibung, die ein Gemeinschaftsleben mit sich bringt, bzw. durch die Berührung vieler Aspekte meiner selbst und die der anderen, verändert sich vieles, ohne dass man dies direkt bemerkt. Als ich mich an der Altersgrenze von 50 Jahren befand, habe ich eine Bestandsaufnahme meines Lebens gemacht und mich gefragt, wie weit ich davon entfernt bin, mich irgendwie „erleuchtet“ zu fühlen. Ich erkannte, dass ich viele kleine Erleuchtungen, tiefe Einsichten, begleitet von Zuständen der Glückseligkeit erlebt hatte. Erfahrungen, die mich dem Sinn der Dinge näherbrachten und mich gleichzeitig von der Anhaftung an viele Aspekte des Lebens befreiten.

In den gewöhnlichen Ereignissen des täglichen Lebens, wie dem Einhalten einer Frist im Arbeitsleben, einem Gefallen, den man jemandem macht oder den man selbst empfängt, Augenblicke, in denen man sein Herz über ein Hindernis hinwegträgt, einem Konflikt – steckt immer ein Riesenpotential, das nur darauf wartet, sich durch uns Ausdruck zu verschaffen. Die Magie manifestiert sich in dem Moment, wo sich irgendetwas in uns verändert, und anstatt zu reagieren, wie wir das normalerweise tun, sind wir fähig, unsere beste Seite zum Vorschein zu bringen.

Näher am Schleier

Heute, nach 35 Jahren, hat sich meine Vision, was Erleuchtung angeht, vollständig verändert. Vielleicht ist das, was uns von der Erleuchtung trennt, nur ein Schleier, und der Schlüssel liegt darin, den Schleier immer feiner werden zu lassen, bis das Licht durchscheinen kann und all das erleuchtet, was wir Tag für Tag leben. Die Metapher des Erleuchteten, der auch weiterhin die Erde bearbeitet, ist mir jetzt klarer geworden, nicht im Kopf, aber in meiner Seele.

Sich zu erleuchten meint, Licht in das zu bringen, was wir sind und was wir jeden Tag machen – mit Einfachheit, wohlwissend, dass wir, indem wir uns selbst verändern, die Welt um uns herum verändern.

Heute kann ich die Schönheit und die Kraft des Menschen, der weiterhin die Erde bearbeitet, erkennen und die ungeheure Auswirkung, die er auf die Welt hat. Ich wünsche allen, so zu werden, den persönlichen Weg zur Erleuchtung zu suchen, zu finden und die eigenen Erfahrungen mit anderen zu teilen.

Möchtest du deine mit uns teilen? Es wäre uns eine Ehre, sie zu empfangen!

Formica Coriandolo

[1] Nagualismus bedeutet (besonders in Zentralamerika) Glaube an einen persönlichen Schutzgeist, meist als Tier oder Pflanze, den sich ein Individuum während der Pubertätsweihen in der Einsamkeit durch Fasten und Gebete erwirbt und mit dem es sich in schicksalhafter Simultanexistenz verbunden fühlt. (nach Duden online)

 

 

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